1999 ff. martin hufner, regensburg
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Verschwundene Klänge
Retrospektive: Zurück in die neunziger Jahre ·
Von Martin Hufner
Man ist es gewohnt, Zeitabschnitte in gleichmäßigen Zehnerschritten
abzumessen: Die 60er-, die 70er-Jahre und so weiter. Und genauso einfach
modelt man den Zehnerjahren entsprechende Stilistiken zu. Im Jazz etwa
den 40ern den Bebop, den 50ern den Cool Jazz, den 60ern den Freejazz.
Ab den 70er-Jahren bekam insofern der so agierende Jazzhistoriker ein
Problem, welches freilich auch früher schon bestand.
Als historiografische Methode ist diese Form der Schematisierung zwar
unter Umständen verständnisfördernd, aber es überfordert
Geschichte zugleich und unterschlägt eine Pluralität von Musikgeschichte
und -entwicklung.
Wenn man sich den Jazz zu Beginn der 90er-Jahre rückblickend anschaut,
so wirkt eine schnelle Rubrizierung nur noch ungerecht. Natürlich
kann man temporäre Schwerpunkte feststellen, so wie sie das JazzFest
in Berlin beschreibt, wenn es zum Beispiel 1992 die Songwriter mit dem
Kanadier und Woody-Allen-Typ Dave Frishberg, Ben Sidran mit Bob Malach
oder das Quartett um den Bassisten Jay Leonhart einlud und 1993 die angerap-te
Clubszene New Yorks mit seinem Giant Step in den Tränenpalast verfrachtete.
Doch das alles wirkt im Rückblick nur wie ein Strohfeuer.
Der Historiker Hans Ulrich Gumbrecht meinte jüngst im „Merkur“,
dass die Gegenwart immer breiter werde. Die Zeiten der deutlich zu empfindenden
radikalen Einschnitte, die Zeiten der Avantgardebewegungen sei sozusagen
abgeklungen. An diese Stelle träte vielmehr ein breiter Strom von
sich gegenseitig beeinflussenden aber auch nebeneinander existierenden
ästhetischen Entwürfen oder philosophischen Theorien. Was Gumbrecht
für die Philosophie konstatiert, lässt sich auch auf den Jazz
übertragen. Auf dem gleichen Jazzfest in Berlin war auch das Global-Village-Team
um Peter Kowald und Fred Friths französisches „Jugendprojekt“
Que d’la Gueule zu Gast. Letztere mit deutlichen Anleihen an der
Popmusik, Kowalds Gruppe mit japanischem Butoh-Tanz von Mitsutaka Ishii.
Und wenn man die drei größten Jazz-Events in Berlin zusammennimmt,
wird dies noch klarer. So war Kowald im Jahr zuvor noch auf dem Festival
für frei Improvisierte Musik. Chris Cutler, Robyn Schulkowsky und
Vinko Globokar, aber auch Jon Rose und Eugene Chadbourne auf dem Festival
für frei improvisierte Musik im Podewil. Während aber Anfang
der 90er-Jahre diese Kreuzungsbewegungen aus Jazz, Art-Rock, Neuer Musik,
HipHop und Cabaret gelegentlich ein explosives Gemisch ergaben, wirkt
im gegenwärtigen Jazz die Muse häufig sehr langweilig geküsst.
Trotzdem beschrieb ich damals ein Jazzfest mit der neuen Fadheit im Jazz
der 90er-Jahre. Rückblickend scheint dies zu ungerecht, zumal wenn
man dann die entsprechenden Live-Aufnahmen von damals nachhört. Besser
als auf jeder Platte zum Beispiel war Peter Apfelbaum & The Hieroglyphics
Ensemble. Doch seine Musik ist ebenso verschwunden wie Dana Bryants sprechender
Jazz, die einen unwiderstehlich in den Sog zog. Aber auch Dana Bryant
oder Fred Frith Anfang der 90er Jahre sind gute Zeugen dafür, dass
sich die spannenderen Entwicklungen damals in der Popmusik abspielten.
Beide Musiker hatten keine Berührungsprobleme, weil sie ohnehin nicht
unter dem Label „Jazz“ liefen. Es war vor allem auch kein
Zugehen der Jazz- auf die Popmusik, sondern eine Art Schmelztiegel aus
Jazz und Pop, ein Crossover im besten Sinne – nicht wie dieser Begriff
heute auf den Hund gekommen ist – nachdrücklich natürlich
bei Fred Frith. Gerade in Rap und HipHop liefen da viele Fäden zusammen,
sei es bei den sehr kurzlebigen Beatnigs, sei es bei Urban Dance Squad
oder Barkmarket; aber auch in der Musikszene des amerikanischen Grunge,
ob bei Nirvana oder den Sonic Youth. Die Fadheit des Jazz wurde damals
an der Behandlung des Schlagzeugs respektive des Basses festgemacht, die
häufig mehr „Swang, Swung oder Swöng“ aber partout
keinen Swing mehr produzieren wollte. Anders als in der avancierten Popmusik
halten sich im unambitionierten Jazz eingeschliffene Muster, denen jede
musikalische Materialität abgeht. Ein steter Begleiter des Jazz bis
heute.
Anfang der 90er entschloss sich der Frankfurter Musikredakteur Bernd
Leukert dazu, seine monatliche Sendung „Avantgardrobe“ mit
interessanter Musik aus Rock, Pop, Jazz und neuer Musik aufzugeben. Er
meinte, dass er einfach nicht mehr genug Musik finde, die sich experimentell
und avantgardistisch äußere. Da waren gewissermaßen die
80er-Jahre mit ihrer vielerorts kreativen Diskussion über die Postmoderne
eine letzte Avantgarde-Bewegung – von mir aus auch wider Willen.